GLAUBHAFTIGKEITSGUTACHTEN: METHODIK

Im Bereich der Glaubhaftigkeitsgutachten müssen insbesondere die Aussagetüchtigkeit des Zeugen, die Aussagekonstanz und die Aussagezuverlässigkeit des zu beurteilenden Zeugen berücksichtigt werden. Daneben kommt der Rekonstruktion der Aussageentstehung eine besondere Bedeutung zu.

 

Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Aussagen von Zeugen mit Lernbehinderung oder Intelligenzminderung stellt dabei eine besondere Herausforderung dar, da die individuellen Fähigkeiten und Einschränkungen der Zeugen konkret erfasst und in Beziehung zu der Aussage gesetzt werden müssen. Erst wenn aufgrund der insgesamt erhobenen Befunde alle Unwahr-Hypothesen zurückgewiesen werden können, wird von der Gültigkeit der Hypothese, dass die Aussage auf tatsächlichen Erlebnissen beruht, ausgegangen.

BESTANDTEILE DER PSYCHOLOGISCHEN AUSSAGEBEGUTACHTUNG

Aussagetüchtigkeit

Volbert (2005) bezeichnet als Grundvoraussetzung der Aussagetüchtigkeit einerseits die adäquate Situationswahrnehmung des Zeugen, die Befähigung zur Speicherung von Gedächtnisinhalten über längere Zeiträume, angemessenes Quellenmonitoring sowie die Befähigung zum selb­ständigen Abruf von Gedächtnisinhalten, andererseits sprachliches Ausdrucksvermögen.

Aussagequalität und Aussagekonstanz

Grundlegende Annahme bei der Beurteilung der Aussagequalität (Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse) ist, dass sich erlebnisfundierte Aussagen qualitativ, d. h. in bestimmten formalen oder inhaltlichen Merkmalen (sog. Realkennzeichen) von solchen Aussagen unterscheiden, die nicht auf erlebten Vorgängen beruhen bzw. erfunden sind. Zur Beurteilung der Aussage eines Zeugen wird die transkribierte wörtliche Aussage eines Zeugen in Hinsicht auf das Vorhandensein dieser Realkennzeichen (s. Steller & Köhnken, 1989; Greuel et al.,1998) analysiert. Die Prüfung der Aussagekonstanz setzt voraus, dass Aussagen des Zeugen zu mehreren Zeitpunkten vorliegen. Bei der Prüfung der Aussagekonstanz sind gedächtnispsychologisch erwartbare Vergessensprozesse zu berücksichtigen (Greuel et al., 1998).

Aussagezuverlässigkeit

Bei der Prüfung der Aussagezuverlässigkeit werden Faktoren untersucht, die zu einer falschen oder verzerrten Aussage führen könnten. Solche Faktoren sind beispielsweise bestimmte Aussagemotivationen, Fremdeinflüsse, mehrfache Befragungen oder psychologische Besonderheiten der aussagenden Person.

Rekonstruktion der Aussageentstehung

Die Rekonstruktion der Aussageentstehung erfolgt anhand der zur Verfügung gestellten Akteninhalte und im Rahmen der aussagepsychologischen Zeugenbefragung. Der Rekonstruktion der Aussageentstehung kommt im Rahmen der Prüfung der „Unwahr“-Hypothesen besondere Bedeutung zu, um z.B. Einflüsse auf die Aussage durch Dritte zu prüfen (sog. „Suggestionshypothese“; Greuel et al., 1998; Volbert, 2005).

Sonderfall: Begutachtung bei intelligenzgeminderten Zeugen

Glaubhaftigkeitsbegutachtung erscheint bei intelligenzgeminderten Zeugen grundsätz­lich möglich (Loohs, 2013). So zeigen Studien, dass Probanden mit Intelligenzminderung unter günstigen Befragungsbedingungen durchaus in der Lage sind, zuverlässige Angaben zu wahrge­nommenen Ereignissen tätigen zu können. Die Begutachtung muss jedoch besonderen Anforderungen genügen.

Untersuchungen zeigen, dass freie Berichte lernbehinderter Personen im Verhältnis zu Berichten einer nicht beeinträchtigten Vergleichsstichprobe nicht mehr fehlerhafte Details enthalten, häufig aber weniger vollständig ausfallen (z.B. Gudjonsson, Murphy & Clare, 2000; Milne & Bull, 1999). Ein Aspekt der Aussagetüchtigkeit liegt in der Funktion der Sinnesorgane, die für die Wahrnehmung des zur Frage stehenden Sachverhalts notwendig waren (Greuel et al., 1998). Da Mehrfachbehinderungen keine Seltenheit darstellen und Kinder mit niedrigem IQ häufig auch von Beeinträchtigungen der visuellen Informationsverarbeitung betroffen sind, sollten etwaige Wahrnehmungseinschränkungen sowohl fremdanamnestisch als auch beim Zeugen selbst erfragt werden. Weiterhin könnte der geringere Detailreichtum auf einer grundsätzlichen Verlangsamung der Informationsbe­arbeitung und / oder auf Abrufproblemen und Schwierigkeiten bei der Wiedergabe der erinnerten Inhalte infolge von Defiziten im sprachlichen Ausdruckvermögen beruhen (Milne & Bull, 2001). Unter dem Aspekt der Aussagezuverlässigkeit stellt sich hinsichtlich intelligenzgeminderter Zeugen die Frage nach einer möglicherweise erhöhten Anfälligkeit für suggestive Prozesse.

Untersuchungen zur Merkmalsorientierten Inhaltsanalyse in Bezug auf Aussagen von Probanden mit intellektuellen Einschränkungen zeigen, dass zahlreiche Aussagemerkmale sowohl in erfundenen als auch in erlebnisbasierten Schilderungen kaum oder nicht vorkamen, so dass diese Merkmale nicht geeignet waren, zwischen erfundenen und erlebnisbasierten Aussagen zu unterscheiden (Berger, 2005; Loohs, Ermann & Wartlsteiner, 2007). In den erfundenen Aussagen traten über die Zeit jedoch deutlich mehr kritische Widersprüche in zentralen Kernbereichen der Aussage auf, während erlebnisbasierte Geschichten mehr Präzisierungen aufwiesen als Schilderungen ohne Erlebnisfundierung.

Personen mit intellektuellen Einschränkungen können aber durchaus dazu in der Lage sein, logisch konsistente Phantasie­erzählungen zu einem Ereignis zu erfinden, die sich in ihrer inhaltlichen Qualität zunächst nur wenig von erlebnisgestützten Schilderungen unterscheiden. Über die Zeit können diese jedoch nicht in gleichbleibender Qualifizierung aufrechterhalten werden, so dass sich zu einem zweiten Untersuchungszeitpunkt die Qualitätsunterschiede zwischen erfundenen und erlebnisbasierten Aussagen deutlicher zeigten.